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Herbert Marcuse: Repressive Toleranz. In: Wolff, Moore, Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, 1965, Suhrkamp. |
Revolutionsrhetorik oder gar Strategien einer gewaltsamen Machtübernahme sind unter den Linken seit dem Ende der RAF so gut wie verschwunden. Nach dem Ende der sozialistischen Welt kam noch die Lektion hinzu, dass Gesellschaftsveränderer neben der Gewaltfreiheit auch die Toleranz als höchstes Gut zu ehren haben; Intoleranz, Rechthaberei, alles Besser-Wissen-Wollen kam auf den Index der political correctness und Selbstzensur. Viele haben die Lektion gelernt: Toleranz bis zur Selbst-Aufgabe, Verzicht auf die Entwicklung eigener Konzepte und der Rückzug auf reine Dekonstruktion als Selbstzweck sind häufig die Folge.
Diese Art von Toleranz stärkt die Tyrannei der Mehrheit... Es ist kennzeichnend für die Herrschaft im Kapitalismus, dass sie sich auf die Wirksamkeit ihrer strukturellen Gewalt verlassen kann. Liberale Gesellschaften können sich Rede- und Versammlungsfreiheit bis zu einem gewissen Grade erlauben. Toleranz ist dann sogar ein Machtmittel, denn sie eignet sich gut dazu, abweichende Meinungen als "intolerant" zu verteufeln. Außerdem dient "die in dieser Unparteilichkeit ausgedrückte Toleranz ... dazu, die herrschende Intoleranz und Unterdrückung möglichst klein darzustellen oder gar freizusprechen." Im Gegenzug meint Marcuse, dass eine die Freiheit erweiternde Toleranz bisher immer "parteilich intolerant gegenüber den Wortführern des unterdrückenden Status quo" war. Toleranz muss dort in Frage gestellt werden, wo es um die "Befriedigung des Daseins", um Freiheit und Glück geht. Sogar im liberalen Kontext wurde die Toleranz an bestimmte Bedingungen geknüpft. Die wichtigste ist die "Fähigkeit, daß man sein eigenes Leben bestimmen kann: daß man imstande ist zu entscheiden, was man tun und lassen, was man erleiden und was man nicht erleiden will". Das erfordert die Verwirklichung einer Gesellschaft, "worin der Mensch nicht an Institutionen versklavt ist, welche die Selbstbestimmung von vornherein beeinträchtigen". Es kann nicht um Pluralismus und das beliebige Geltenlassen von Meinungen gehen, sondern um "Ausdruck und Entfaltung unabhängigen Denkens, frei, von geistigem Drill, Manipulation, äußerer Autorität". Dies ist natürlich in den gegenwärtigen Verhältnissen so weit erschwert wie nur möglich. Schon Marcuse stellte für seine Zeit fest, dass "unter der Herrschaft der monopolistischen Medien... eine Mentalität erzeugt [wird], für die Recht und Unrecht, Wahr und Falsch vorherbestimmt sind, wo immer sie die Lebensinteressen der Gesellschaft berühren." Hier wird Toleranz sogar repressiv, sie "blockiert... die effektive Abweichung, die Anerkennung dessen, was nicht dem Establishment angehört." Es ist notwendig, das falsche Bewusstsein zu durchbrechen, an allen möglichen Stellen, dies kann "den archimedischen Punkt liefern für eine umfassendere Emanzipation - an einer allerdings unendlich kleinen Stelle, aber von der Erweiterung solcher kleinen Stellen hängt die Chance einer Änderung ab." Hier möchte ich aus dem Text aussteigen - es geht noch weiter um die Frage der Gewalt(freiheit), der Frage, welche Menschen autonom genug sind, um Entscheidungen für die Gesamtgesellschaft treffen zu können und wie zwischen regressiven und fortschrittlichen Formen von Toleranz unterschieden werden kann. Woran ich besonders anknüpfen möchte, ist die Strategie der Gegen-Information und des Bruchs mit dem Erscheinenden. Beides erfordert eine "parteiliche Intoleranz", und auf jeden Fall eine "Intoleranz gegenüber den herrschenden politischen Praktiken, Gesinnungen und Meinungen". Für uns sind die Bedingungen seit Marcuse einerseits schwerer geworden, denn die Dichte und Durchdringungsfähigkeit der Medienwelt ist ungeheuer gestiegen. Menschen werden nicht nur durch ihre Funktionalisierung in der Arbeitswelt, sondern mehr und mehr in der für sie faszinierenden Freizeit- und Media-Spielewelt in ihrer Persönlichkeit so geformt, so dass sie ein anderes als dieses manipulierte Leben selbst kaum zu wünschen vermögen. Andererseits sind die katastrophalen sozialen, globalen und ökologischen Auswirkungen der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise bald nicht mehr zu kompensieren und führen zu einem mehr oder weniger hartem Aufschlagen in der Realität, das die Versprechungen der Ideologen auf ein ständig wachstumsorientiertes Konsumparadies ad absurdum führen wird. Die Tatsachen selbst ändern sich bis zur Unkenntlichkeit und auch sprachliche Manipulationen können die Ausweglosigkeit nicht mehr ewig kaschieren. Es ist wahrscheinlich, dass der Tag kommt, an dem viele entsetzt auf ihre heutigen Ideale schauen: "Der Kaiser ist ja nackt!!!". Hoffentlich haben sie bis dahin noch nicht alle Fähigkeiten verloren, ihr Leben in Kooperation mit allen anderen dann endlich gemeinsam in die Hände zu nehmen und eine bessere Gesellschaft zu entwickeln. |
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